Wie Moral (nicht) funktioniert: Kommunikation stärkt Vertrauen

Prof. Dr. Gerhard Minnameier, Tim Bonowski, M.Sc.

In einem neuen Artikel, der im Journal of Economic Psychology erscheint, widmen sich Tim Bonowski und Prof. Dr. Gerhard Minnameier (Lehrstuhl für Wirtschaftsethik und Wirtschaftspädagogik) der Frage, wie gegenseitiges Vertrauen auch in anonymen Kontexten entstehen kann. Die Ergebnisse machen deutlich, dass reziproke moralische Bewertungen Wirkung zeigen, wenn jenseits des Selbstbildes nichts anderes auf dem Spiel steht. Gibt es die Möglichkeit für diese Art von Kommunikation, trägt sie auch unter Anonymität zur Stabilisierung von Kooperation bei. 

Dass Menschen nicht allein durch materielle Anreize zu Handlungen motiviert werden, vielmehr ebenso die Interessen anderer in ihren Entscheidungen berücksichtigen, ist nicht nur Alltagswissen, sondern prägt auch das Menschenbild der modernen Ökonomik. Bekannt ist allerdings auch, dass sogenannte soziale Präferenzen leicht verdrängt werden und stattdessen doch ein von Eigeninteressen geleiteter Homo oeconomicus zum Vorschein kommt (obschon ein substanzieller Anteil von Versuchspersonen auch unter Anonymität kooperiert). So haben Experimente gezeigt, dass uneigennütziges Verhalten unter Anonymität abnimmt, was Zweifel am Altruismus als treibendem Motiv weckt. Liegt dies jeweils an Charakterschwäche oder an der jeweiligen Situationslogik?

Für Ersteres spricht zunächst, dass in vielen Experimenten (zum sogenannten moral wiggle room oder zur moral hypocrisy) die Entscheider*innen vollkommen frei sind und keine negativen Konsequenzen (oder Ausnutzung) ihres eigenen moralischen Handelns zu befürchten haben. Die Autoren vertreten jedoch einen gegenläufigen Ansatz und stellen die These auf, dass moralische Normen nicht bloße Selbstverpflichtung sind, sondern vor allem Lösungskonzepte für zugrunde liegende soziale Dilemmata darstellen, die mit kommunikativen Belohnungen und Bestrafungen in ‚moralischer Währung‘ einhergehen (ebenso wie formale Institutionen typischerweise mit monetären Strafen und/oder Belohnungen operieren). Anonymität verunmöglicht den Austausch in moralischer Währung und verdrängt so (tendenziell) die Moral.

Ihre Hypothese testeten die Autoren an einem Spiel, in dem ein*e Spieler*in einen Vertrauensvorschuss leisten musste und der*die Spielpartner*in die Gelegenheit hatte, das Vertrauen auszunutzen. Das Experiment prüfte, ob in einem Spiel um echtes Geld Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit größer sind, wenn das eigene Handeln vom Gegenüber im Anschluss an die Entscheidung moralisch bewertet und die gegenseitige Bewertung explizit gemacht wird. Da Spielpartner*innen einander in jeder neuen Runde neu zugelost wurden und die Interaktionen vollständig anonym waren, stand für die Beteiligten der eigene Ruf nicht auf dem Spiel und es bestand auch keine Möglichkeit, eine persönliche Beziehung zu etablieren. Es ging in moralischer Hinsicht ausschließlich darum, dem Gegenüber Achtung entgegenzubringen bzw. diese Geste zu würdigen (oder im umgekehrten Fall der eigenen Missachtung Ausdruck verleihen zu können). Hierzu standen formalisierte Rückmeldungen zu Fairness und Angemessenheit der Entscheidung des*der anderen zur Verfügung.

Bei Gruppen, in denen diese Option zu moralischer Kommunikation bestand, legten die Versuchspersonen nicht nur ein größeres Vertrauen an den Tag, diesem Vertrauen wurde auch mit größerer Vertrauenswürdigkeit begegnet. Das zeigt, dass die Möglichkeit des Austauschs in moralischer Währung (die ansonsten keinerlei strategischen Vorteil bietet) genutzt wird und der Moral – in diesem Fall im Sinne der Goldenen Regel – zur Geltung verhilft. Und es erklärt umgekehrt, warum die Moral in anonymen Kontexten schneller schwindet.

Die Autoren verweisen auf die Bedeutung von Vertrauen für Interaktionen vielerlei Art und auf die hohen Kosten von Betrug und dessen Verfolgung. Angesichts der immateriellen Natur moralischer Kommunikation könnte diese ein günstiges Mittel darstellen, um beispielsweise im Falle anonymer Online-Plattformen eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens zu stützen.

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