Was Mikrofinanzinstitutionen von den deutschen Sparkassen Genossenschaftsbanken des 19. Jahrhunderts lernen können

Von Reinhard H. Schmidt

Die deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken des 19. Jahrhunderts waren Vorläufer des modernen Mikrofinanzwesens. Sie boten für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, die bis dahin keinen Zugang zu Bankkrediten hatte, Finanzdienstleistungen an – zu geringen Kosten für sich selbst und zu bezahlbaren Preisen für ihre Kunden. Indem sie ein Netzwerk an finanziell rentablen und stabilen Finanzinstitutionen im ganzen Land aufbauten, leisteten sie einen wesentlichen Beitrag zu einer gesunden und „inklusiven“ Finanzinfrastruktur in Deutschland. Ein Rückblick auf die Geschichte der deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken, verbunden mit den Lektionen aus der modernen Mikrofinanzgeschichte, kann wertvolle Hinweise für die aktuelle Politik sowie gegenwärtige und zukünftige Modelle des Mikrofinanzwesens geben.

Mikrofinanzen in Deutschland im 19. Jahrhundert

Die wirtschaftliche, soziale und politische Situation in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war größtenteils vergleichbar mit der vieler Entwicklungsländer in den 1970er Jahren, als das moderne Mikrofinanzwesen erstmals von Muhammad Yunus aufgebaut wurde. Die wenigen existierenden Banken waren weder willens noch in der Lage, der allgemeinen Öffentlichkeit Finanzdienstleistungen anzubieten. Arme Menschen und kleine Unternehmen in Landwirtschaft, Handel oder Handwerk konnten nur über Geldverleiher oder Freunde und Familie an finanzielle Mittel kommen.

Die ersten Sparkassen im späten 18. Jahrhundert und die ersten Genossenschaftsbanken Mitte des 19. Jahrhunderts begannen ihre jeweiligen Geschäftsaktivitäten sehr spezialisiert: Die Sparkassen nahmen ausschließlich Einlagen an, während die Genossenschaftsbanken ausschließlich kleine Kredite vergaben. Beide boten ihre Dienstleistungen sehr armen Menschen und sehr kleinen Unternehmen in ihrer Region an, nicht der allgemeinen Öffentlichkeit. Ihr Ziel war es nicht, Gewinne zu machen, sondern soziale Unterstützung zu gewähren und zur öffentlichen Bildung beizutragen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert wandelten sich die Sparkassen von privaten Non-Profit-Organisationen zu regionalen oder kommunalen Instituten. In der Folge erhielten sie die zusätzliche Aufgabe, einen Kapitalstock aufzubauen und der gesamten lokalen Gemeinschaft, inklusive lokalen Unternehmen, Kredite zu gewähren. Bis heute ist es der übergeordnete Zweck von Sparkassen, ihrer jeweiligen Region, deren Wirtschaft und Bevölkerung Bankdienstleistungen anzubieten. Ein profitables Geschäftsmodell ist die Voraussetzung, um diese Aufgabe erfüllen zu können. Profitabilität ist somit ebenfalls ein Geschäftsziel, welches aber, zumindest grundsätzlich, hinter dem Mandat, Menschen und Region zu unterstützen, zurücksteht.

Die ersten deutschen Genossenschaftsbanken wurden von Wohltätigkeitsorganisationen oder lokalen Würdenträgern finanziert. Als diese Mittel nicht mehr ausreichten, um die Kreditwünsche ihrer Klientel zu befriedigen, begannen die Genossenschaftsbanken ebenfalls damit, um Spareinlagen ihrer Kunden zu werben, und verliehen diese an andere Kunden. Sie öffneten sich zudem einer größeren lokalen Zielgruppe. Die Genossenschaftsbanken unterzogen sich somit in einer noch geringeren Zeitspanne einer ähnlichen strategischen Umorientierung wie die Sparkassen: Sie wandelten sich von zunächst sehr spezialisierten Finanzdienstleistern in Finanzintermediäre, die man heute „inklusive“ Anbieter von Finanzdienstleistungen nennen würde. Dies war höchstwahrscheinlich der Grund für den erstaunlichen Erfolg beider deutscher Bankengruppen im 19. Jahrhundert.

Modernes Mikrofinanzwesen

Die ersten Mikrofinanzinstitute, die in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren entstanden, verfolgten zunächst eine armutsorientierte Finanz-Entwicklungspolitik und waren ebenfalls in doppelter Hinsicht höchst spezialisiert: Sie boten nur Kredite an und dies nur sehr armen Menschen und sehr kleinen Unternehmen. Das war äußerst ineffizient: Die jährlichen Administrationskosten und Kreditausfälle waren ähnlich hoch wie das gesamte ausstehende Kreditvolumen. Aufgrund der dadurch äußerst begrenzten finanziellen Möglichkeiten konnte das Mikrofinanzwesen weder eine nennenswerte Anzahl an Personen erreichen noch irgendeine wesentliche Wirkung entfalten. Um einen spürbaren Einfluss auf soziale und ökonomische Bedingungen nehmen zu können, ist eine gewisse Größenordnung erforderlich sowie ein „nachhaltiges“ Geschäftsmodell, das nicht von einem dauerhaften Subventionsfluss abhängig ist, sondern möglichst sogar einen kleinen Gewinn erwirtschaftet.

Sehr bald versuchten einige Mikrofinanzinstitute, diese Mängel zugunsten eines „kommerziellen“ Ansatzes zu überwinden. Institute, die um das Jahr 1990 herum diesen Weg wählten, sind seitdem sehr schnell gewachsen. Allein dieses Wachstum verringerte die Kosten kleiner Kredite deutlich und ermöglichte daher substanzielle Einflüsse auf Wirtschaft und Entwicklung. Nur zehn Jahre später führte diese Entwicklung zu einem regelrechten Mikrofinanz-Boom.

Dieser Boom hatte auch seine Schattenseiten, die kurz nach dem Ausbruch der allgemeinen Finanzkrise 2008 in eine Mikrofinanz-Krise mündeten. So zogen die Börsengänge der mexikanischen Mikrofinanzinstitution Compartamos und ihres indischen Wettbewerbers SKS-Microfinance etwa Hedge-Fonds, Private Equity- und andere Investoren an, die nur an möglichst viel Gewinn interessiert waren und nicht an den sozialen und Entwicklungszielen. Darüber hinaus konnte der Verdienst, Tausende extrem kleiner „Unternehmen“ zu erschaffen und zu unterstützen, bestenfalls eine begrenzte Wirkung auf die Entwicklung entfalten. Nicht zuletzt machte sich auch das Risiko der Überschuldung und wachsender Kreditausfälle bemerkbar, wenn zu viele Kreditprogramme angeboten wurden und die Menschen sich leicht von mehreren Anbietern Kredite besorgen konnten. All das führte dazu, dass sich ein mehr „inklusiver“ Ansatz, bei dem Institute ihre Dienstleistungen der gesamten lokalen Community, einschließlich kleiner und auch einiger mittelgroßer Unternehmen, anboten, als erfolgreicher erwies. Diese Idee einer „inklusiven Finanzdienstleistung“, die der gesamten Bevölkerung zugutekommt, hat sich heute flächendeckend durchgesetzt.

Was können wir aus der Geschichte lernen?

Alle Mikrofinanzinstitutionen, die als erfolgreich gelten, haben einen ähnlichen Weg eingeschlagen wie die deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken im 19. Jahrhundert. Obwohl die meisten als im doppelten Sinne spezialisierte Institute gestartet sind, änderten sie ihre Strategie und wandelten sich zu wahren Finanzintermediären, die Kredite vergeben und um Kundeneinlagen werben, sowie zu „inklusiven“ Regionalbanken, die ihre Dienste einer breiter definierten lokalen Klientel anbieten, um den Maßstab ihrer Geschäfte zu erhöhen und ihre Einnahmebasis zu stabilisieren.

Eine entscheidende Bedingung für den Erfolg ist somit, dass die entsprechenden Institute sich nicht spezialisieren, weder in Bezug auf ihre Dienstleistungen noch auf ihren Kundenkreis. Stattdessen sollten sie sich als wahre Finanzintermediäre aufstellen, die Darlehen anbieten, lokale Einlagen annehmen und zusätzlich elementare Finanzdienstleistungen anbieten wie etwa Zahlungsdienste. Sowohl die Geschichte der Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland als auch die moderne Mikrofinanzgeschichte belegt diese Schlussfolgerungen, die als Leitlinien für die gegenwärtige Finanz-Entwicklungspolitik und -praxis dienen können.

 

Literatur

Schmidt, R. H. (2017), "Microfinance – Once and Today", SAFE White Paper No. 48.

Schmidt, R. H., Seibel, H.-D. and P. Thomes (2016), “From Microfinance to Inclusive Banking: Why Local Banking Works”, Wiley-VHC, Weinheim.

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